Vom dualen zum polaren Denken

Schon seit ich denken kann, faszinieren mich schwarz-weiß Fotografien. Mich selbst gibt es auf Bildern daher auch fast immer in schwarz-weiß. Wer mich in Farbe erleben möchte, muss sich schon persönlich mit mir Treffen. Aber was macht diese besondere Faszination aus? Lustigerweise ist mir das erst vor wenigen Tagen bewusst geworden. Ich habe mich schon längere Zeit intensiv mit dem Thema der Dualität und Polarität in unserem Denken und Wahrnehmen auseinandergesetzt, viel recherchiert und zahlreiche Bücher gewälzt. Dabei bin ich auf einen wertvollen Artikel zum Thema Licht und Schatten gestoßen. In diesem wurde die Dualität in der Fotografie beschrieben, die sich hier im Verhältnis von Licht und Schatten ausdrückt. Genau besehen, würde sich hier aber der Begriff der Polarität mehr eignen, denn ein Bild ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel beider Pole (Licht und Schatten) – sonst wäre es nur ein ganz weißes oder ganz schwarzes Bild. Hier zeigt sich die Welt nicht in einem „oder“, sondern einem „und“. Und erst aus dem „und“ ergeben sich die vielen Grautöne dazwischen, die das Bild lebendig machen. Es gibt also nicht nur Licht oder Schatten, Yin oder Yang, sondern beides in Harmonie zusammen. „Es ist, wie wenn das Unsichtbare sichtbar würde, denn dieser Punkt von Harmonie zwischen den Gegensätzen ist immer vorhanden, aber nie sichtbar.“, beschreibt Pierre Poulain.

Binär oder fuzzy?

Wir sind es gewohnt in Entweder-Oder zu denken, wobei unser Denken von wertender Unterscheidung geprägt ist – das ist gut, jenes ist schlecht. Egal wohin wir schauen überall finden wir sie, die Dualität. Sie schafft Klarheit, verstellt aber leider den Blick auf die Ganzheit. Wer dual denkt, sieht die wechselseitige Beziehung zweier Pole nicht und wird auch nie die vielen Grautöne und schon gar nicht den ganzen Farbraum mit seinen nahezu unendlichen Schattierungen wahrnehmen können, der erst aus dem „und“ der Pole entsteht.

Rückblickend war es in meinem Leben mein gehasstes Studienfach der Informatik, das mich gefühlt das erste Mal dazu brachte über Dualität bewusst nachzudenken. In einer Lehrveranstaltung wurde die Boolsche Logik thematisiert. Kurz gesagt arbeitet diese mit binären Zuständen von 0 und 1, wahr oder falsch – also dual. Ich hatte mich damals sofort gefragt, was mit dem „Dazwischen“ ist und fand eine Erklärung in der Fuzzy Logik, die von „graduellen Wahrheiten“ spricht, in der also alles zwischen 0 und 1 ebenso existiert.

Das Ich existiert nicht ohne ein Wir

Einige Jahre später wurde ich wieder mit der Dualität konfrontiert – es war im Rahmen meiner Doktorarbeit. In dieser untersuchte ich, welchen Einfluss die Medien auf die Vorurteilsbildung nehmen und dadurch indirekt Einfluss auf die Integration ethnischer Minderheiten. Während meiner Recherchen stolperte ich damals über ein Werk von Elias, das mich sehr faszinierte. An einem Satz blieb ich immer wieder hängen und dieser Satz kam mir beim Lesen des Artikels von Poulain auch wieder in den Sinn. Elias sagt: „Der einzelne Mensch vermag nur <Ich> zu sagen, weil und wenn er zugleich auch <Wir> zu sagen vermag.“

Polares Denken lässt uns die Welt in all seinen Farbnuancen erkennen

Klar ist es einfach feste Grenzen zu ziehen zwischen ich und wir, gut und böse, oben und unten, reich und arm – aber existieren im Leben nicht auch Grautöne, eben die graduellen Wahrheiten der Fuzzy Logik, so wie auch die vielen Grautöne in der schwarz-weiß Fotografie? Auch in der schwarz-weiß Fotografie existiert nicht nur schwarz und weiß, sondern zahlreiche Grautöne dazwischen. Und diese basieren auf der Beziehung zwischen dem einen und dem anderen Extrem. Hier gibt es keine Gegensätze mehr, sondern Ergänzungen. Würde man eine Seite entfernen, würde auch das grau aufhören zu existieren.

Wir wissen alle wie gefährlich Extreme sind. Diese entstehen aber erst aus der dualen Sichtweise. Denn denken wir dual, können wir einander nicht verstehen, es sei denn wir teilen exakt dieselbe Auffassung. Auch ich habe erleben müssen, was duales Denken anrichten kann. Im Oktober 2021 infizierte ich mich mit Covid 19 mit der Folge Post-Covid. Nach Diagnosestellung gab es für mich nur noch einen Feind – meine Krankheit. Ich habe alles versucht, um gesund zu werden, was natürlich nachvollziehbar ist. Aber je mehr ich der Krankheit den Kampf angesagt hatte, desto stärker schlug sie zurück. Über die Schmerzen habe ich vergessen, dass Krankheit ohne Gesundheit nicht existiert.

Heute ist für mich klar, dass Licht und Schatten die beiden Seiten einer Medaille sind, die wir selbst prägen. Ich versuche deutlich weniger in wertender Unterscheidung zu denken und mir immer auch den Schatten bewusst zu machen.

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